„So lange ich nützlich sein kann“ - Traudl Lukesch ist im Alter von 96 Jahren gestorben

Presse | Wie viel passt in ein fast 100jähriges Leben? Wie viel Abschied und Verlust, andererseits Schaffenskraft, Freude, Überzeugung und Tatendrang? Wenn die Familie jetzt wieder – wie vor fast fünf Jahren nach dem Tod von Hans – zusammensitzt, in Fotos und Unterlagen blättert und dabei neben bekannten Details auf manch Lustiges, Kurioses, Unerwartetes stößt, dann tritt so klar hervor, dass jeder von uns nur einen Bruchteil dessen kennt, was sich in deinem 96 Jahre währenden Leben zutrug.
Traudl Lukesch 2009Am 7. Mai 1928 wurde Traudl Nohel in Hruschau, Oberschlesien im damals noch deutschen Grenzgebiet zu Tschechien geboren. Bereits in ihrer Kindheit sind mehrere Bausteine ihres späteren Lebens und Wirkens erkennbar. Ihr Vater, obgleich zu diesem Zeitpunkt bereits über 60 Jahre alt, verbrachte viel Zeit mit Traudl und ihrem Bruder Kurt im Freien; beim Skifahren und Rodeln, Wandern und Zelten, und nach Traudls Erzählungen wurde immer gleich eine Horde von Nachbarskindern eingeladen. Da Traudl ein rabiates Weibsstück war (ihre Worte! Es fällt schwer zu glauben…), oblag ihr die Rolle der Beschützerin des älteren Bruders. Dass der sanfte und friedfertige Kurt später, kaum volljährig, im Krieg starb und sie selbst überlebte, ließ sie bis zum letzten Tag nicht los.
Das Mädchenpensionat, gegen das sie sich zu Beginn vehement wehrte, bescherte ihr die schönsten Jahre und freundschaftliche Kontakte bis ins hohe Alter. Doch eine überaus erfüllte und behütete Kindheit fand ein jähes Ende. Traudls Familie musste 1945 die Flucht aus dem Sudetenland antreten und, wie die große Schar der acht Millionen Heimatvertriebenen des zweiten Weltkriegs, eine neue Heimat finden. Im Pfarrhaus von Wohnbach, Wetteraukreis, wurde sie zunächst aufgenommen. Nur kurze Zeit später sollte sie in Weißkirchen auftauchen und es bis zu ihrem Lebensende als Wirk- und Wohnort nicht mehr verlassen: 1947 lernte sie dort den ebenfalls aus dem Sudetenland vertriebenen Hans Lukesch auf einem Faschingsball kennen. Nach der Hochzeit 1951 bezogen sie ihre erste gemeinsame Wohnung in der Urselbachstraße und bauten in Eigenleistung ihr Haus in der Memeler Straße. Die Legende besagt, dass Traudl 1952 ihren ersten Sohn Bernd nur deshalb nicht versehentlich oben auf dem Kirschbaum gebar, weil ihre Mutter vehement und unnachgiebig darauf bestand, dass sie gefälligst herunterkommen solle, aber flott! Und dass der 1955 geborene Sohn Kurt mithilfe von Hans auf die Welt gebracht wurde, während die Hebamme im Nachbarzimmer strickenderweise welcher Dinge auch immer harrte.
Hans und Traudl sollten sich in den darauffolgenden Jahren vielfältig und engagiert in den verschiedenen Organisationen und Vereinen Weißkirchens einsetzen. Allen voran war dies bei Traudl der Turnverein Weißkirchen. Es fällt schwer, hier einen adäquaten Abriss ihres Einsatzes im Verein darzustellen, der über Jahre, teils Jahrzehnte hinweg Übungsleiter-Tätigkeiten im Bereich Kinder, Gymnastik, Turnen, Ehepaare und Senioren umfasste. Als Fachwartin für verschiedene Abteilungen prägte sie den Verein entscheidend mit und trat auch auf Gau- und Landesebene in verschiedenen Rollen im Bereich des Gerätturnens und Kampfrichterns auf. Ob Traudl zu Beginn ahnte, dass sie mit TVW, Turngau Feldberg und hessischem Turnverband die halbe Welt bereisen würde? Dass Turnfeste, Gymnaestradas, Lehrgänge und Reisegruppen sie nach Göteborg, Gran Canaria, Lissabon, ja bis nach Israel und Südamerika führen würden? Traudls Begeisterung für den Sport und insbesondere das Gerätturnen zeigten sich bis zuletzt in dem Interesse und der Teilhabe an dem Werdegang der Weißkirchener Bundesliga-Mannschaft.
Ein ganz eigenes Kapitel stellt das TVW-Zeltlager dar. Hervorgegangen aus einem Trainingslager für ein Bergsportfest wurde es von Traudl und Hans gemeinsam mit einem Freund in den späten 60ern gegründet, erweiterte sich kontinuierlich in Zeit und Material und Programm. Die Leidenschaft für Lagerfeuer blitzte noch bis zuletzt immer wieder auf. Ihre Begeisterung für Zelten, Wald, Sternenhimmel, groooße Töpfe und Löffel, für nächtliche Überfälle, Er-Kaputt, und, naja, Küchendienst vermittelte sie nicht nur hunderten Teilnehmern, sondern trug sie mittlerweile bis an ihre Urenkelgeneration weiter. 1991 gaben Traudl und Hans die Lagerleitung ab. Doch erst weitere 20 Jahre später sagten sie dem Zeltlager Lebewohl, nicht ohne vorher in den Stand der „heiligen Sankt-Zela-Großeltern“ erhoben worden zu sein.
Engagierte Wegbegleiter setzten sich 2008 ein, für Traudl eine besondere Auszeichnung zu erwirken. Sie trugen Daten und Tätigkeiten zusammen, sammelten Medaillen, Ehrenbriefe, -urkunden und -nadeln. Infolgedessen bekam Traudl Lukesch im Jahr 2009 das Bundesverdienstkreuz am Bande der BRD verliehen. Wir waren stolz. Sie blieb bescheiden. Ihr eigener Stolz zeigte sich hingegen in dem geflügelten Ausdruck „ICH bin die Mutter!“, den sie augenzwinkernd bei jedem sportlichen Erfolg ihrer Söhne zum Besten gab.Hans und Traudl Lukesch und drei weitere Generationen (2015)
Wie schön, dass wir Traudl im Dezember ein letztes Mal in die TVW-Vereinshalle begleiten durften. Dass sie das TVW-Weihnachtstheater, bei dem sie selbst jahrelang mitgewirkt hatte, ein letztes von vielen, vielen Malen erleben durfte. Wie schön, dass manch Weggefährte zu ihr kam und ein paar Worte mit ihr sprach.
„So alt derf mer net wer’n“ werden nicht Wenige in den letzten Jahren, spätestens nach dem Tod von Hans, aus ihrem Mund gehört haben. Als sie langsam begann, Abschied zu nehmen. „Uroma? Wie lange lebst du eigentlich noch?“ „So lange ich euch noch nützlich sein kann.“ Aber ist dir selbst bewusst gewesen, wie vielen Menschen du in deinem Leben „nützlich“ warst, wie viele Lebenswege du geprägt hast, wie viele Impulse gesetzt? Wie viele Kostüme du genäht, Strümpfe gestrickt, wie viel Rumfutsch du gekocht und Malakow und Bleche Quiche du gebacken hast? Dass du nie gerastet hast, immer angepackt, initiiert, gewirbelt und gewirkt… Es war eine Ehre, DIR gegen Ende nützlich sein zu dürfen.
Du bist ein Vorbild.
Gesa Thoma (geb. Lukesch)